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Erleichterung über den Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen, mehr aber nicht

Joe Biden und Kamala Harris haben die US-Präsidentschaftswahlen gewonnen. Glücklicherweise. Mehr als Erleichterung zu empfinden, gelingt mir nicht. Warum? Erstens sind die Zahlen der an Corona erkrankten Menschen in den Staaten augenblicklich noch viel zu hoch, um in Freudentränen ausbrechen zu können. Zweitens haben auch Latinos und Afroamerikaner ihr Wahlkreuz bei Donald Trump gemacht und dies sicher nicht ohne Grund. Drittens ist die Identitätspolitik, die die amerikanische Gesellschaft ebenso spaltet wie die Trump-Wählerschaft noch nicht einmal im Ansatz zu dem Debattenthema geworden, das sie sein müsste. Denn egal, ob von rechter oder linker Seite: Identitätspolitik ist immer (!) reaktionär. Kürzlich ist Paul Nellens deutsche Übersetzung von Arthur M. Schlesingers Buch „Die Spaltung Amerikas“ erschienen. Schlesinger zeigt darin, dass und wie Identitätspolitik zum Spaltpilz in den Vereinigten Staaten werden konnte. In Westeuropa warnte der Soziologe Pierre-André Taguieff bereits 1988 in seinem Buch „Der Rassismus und sein Double“ die französische Linke davor, dem Front National auf den Leim zu gehen und sich zu dessen bloß spiegelbildlich verkehrtem Pendant zu entwickeln. Beider Warnungen waren in den Wind gesprochen. Doch behielten Schlesinger und Taguieff Recht. Zu beobachten ist das heute in den USA wie in den liberalen Demokratien (West)Europas von Großbritannien, Frankreich über Belgien und die Niederlande, Spanien und Dänemark bis Schweden, Österreich und die Bundesrepublik. Gewiss, die Probleme des Stadt/Land-Gefälles, des Strukturwandels in der Arbeitswelt oder des Umweltschutzes spielen eine gewichtige Rolle, haben aber, da man sie gemeinsam lösen kann, kein annähernd vergleichbares Spaltpotential, über das die Identitätspolitik verfügt. Sie ist die Rückkehr zu längst überwunden geglaubten Parametern wie Herkunft, Abstammung, Religion oder Hautfarbe. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Parameter biologisch oder sozial definiert sind. Für unzulässige Benachteiligungen haben die meisten liberalen Demokratien Antidiskriminierungsgesetze. Konsequent angewandt, sollten sie Benachteiligungen aufgrund von Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe etc. ahnden und so allmählich auszuschließen helfen. Proporzdenken und -handeln wird nicht weiterhelfen. Im Gegenteil, denn Rechtsstaatlichkeit setzt eine Blindheit gegenüber allen Parametern von der Herkunft und der Hautfarbe über die Religion und die Abstammung bis hin zum Geschlecht voraus, da das Gesetz für alle gilt. In einer Demokratie sind Eliten, verstanden als Gruppe derjenigen Menschen, die qua Wahl für eine bestimmte Zeit   für alle verbindliche Entscheidungen treffen, prinzipiell austauschbar. Jede und jeder kann zeitweise zu dieser Elite gehören und muss dann Entscheidungen für alle Staatsbürger treffen und darf die Interessen der Angehörigen der Gruppe, zu welcher er oder sie qua Geburt oder qua Konversion gehört, nicht als dringlicher gewichten oder höher bewerten als die aller anderen. Eine Politik vor allem für „weiße“ Menschen zu machen, wäre genauso verfehlt wie eine Politik, die vor allem „schwarze“ oder „coloured“ Menschen im Blick hat. In einer rechtsstaatlich und demokratisch verfassten Ordnung wie wir sie in Nordamerika und Europa seit dem letzten Jahrhundert kennen, gibt es Ungerechtigkeiten, Rassismus (verstanden als Denken in Kategorien von Rasse und Ethnie) und soziale Ungleichheiten. Sie sind aber weder „systemisch“ wie uns Linksradikale und Islamisten glauben machen wollen noch stellen sie Probleme dar, die wir nur mit ethnischer und religiöser Homogenität oder Ungleichbehandlung zu lösen imstande wären wie uns Rechtsradikale vorgaukeln. Ob die USA es schaffen werden, die Spaltungen in ihrer Gesellschaft zu überwinden, hängt auch davon ab, wie es den US-Demokraten gelingt, rechte wie linke Identitätspolitik hinter sich zu lassen und Politik für alle US-Amerikaner zu machen.