„Mein Wolfshund-Jahrhundert, mich packts, mich befällts – Doch bin ich nicht wölfischen Bluts“ lauten zwei Zeilen des Lyrikers Ossip Mandelstams in der deutschen Übersetzung Paul Celans. Das Gedicht aus dem Jahr 1931 mag die deutschen Herausgeber des ersten Teils von Nadeshda Mandelstams „Erinnerungen“ inspiriert haben, als sie das Buch 1971 „Das Jahrhundert der Wölfe“ betitelten. Ein zweiter Teil heißt im Deutschen: „Generation ohne Tränen“ und erschien 1975. Viele Jahrzehnte später sollte noch ein dritter folgen. Nadeshda Mandelstam war die Frau und spätere Witwe Ossip Mandelstams. Das allein wäre kaum ein Grund, ihren umfangreichen Memoiren zu viel Lebenszeit zu widmen. Genau das aber sollte man tun. Heute mehr denn je. Ihr gelingt, minutiös zu erfassen, wie Menschen unter stalinistischen Verhältnissen gehandelt haben. Einfache Leute, kleine und große Beamte, besonders aber Intellektuelle, Künstlerkollegen, Kulturfunktionäre, Redakteure, Lektoren, Wissenschaftler etc. Kleine Lehrstücke über die Sogkraft des gesellschaftlichen Opportunismus. Bei Mandelstam erfährt man mehr und Genaueres über das Alltagsleben in einem linkstotalitär verfassten Staat als in den verdienstvollsten politik- und sozialwissenschaftlichen Studien. Die Moral, das Zeitgemäße, den Fortschritt, ja die Zukunft glaubten viele der neuen Sowjetmenschen damals auf ihrer Seite. Die Mandelstams, Anna Achmatowa, Marina Zwetajewa, Boris Pasternak, Sergej Jessenin oder später Joseph Brodsky hingegen galten offiziell als hoffnungslos gestrige Geister einer abgestorbenen Epoche, als moralisch verwahrlost und künstlerisch überholt. Heute zählen sie zu den Perlen der russischen Literatur.
Letzten Sonntag stellte der Büchermarkt im Deutschlandfunk eine Neuausgabe des „Jahrhunderts der Wölfe“ vor, die um ältere Übersetzungsfehler bereinigt und um einen umfangreichen, vieles erläuternden Anhang erweitert worden ist. Eine gute Nachricht und eine noch bessere Gelegenheit, Nadeshda Mandelstams „Erinnerungen“ zu lesen. Warlam Schalamows Erzählungen sind – anders als in der Buchvorstellung angedeutet – nicht die einzigen vergleichbar gewichtigen Texte zum Thema. Wer sich mit Alexander Solschenizyns Sprache und seiner Judenfeindschaft schwertut, greife zu Jewgenija Ginsburgs „Marschroute eines Lebens“ (1967) und „Gratwanderung“ (1980). Ginsburg war anders als die Mandelstams Kommunistin und kam unter anderem wegen mangelnder Wachsamkeit für Jahrzehnte in den GULag und die Verbannung. Ihre ausgezeichnet geschriebenen Bücher folgen nicht jener verdichteten und pointierten Dramaturgie Mandelstams, die in ihrer streckenweisen Gedrängtheit die Verfolgung fühlbar macht und sie im gleichen Atemzug deutet und analysiert. Doch entwirft auch die Publizistin Ginsburg neben einem Panorama der Niedertracht Szenen von Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit abseits moralistischer Selbstgenügsamkeit wie sie einem gelegentlich bei Solschenizyn begegnet. Bei Mandelstam wiederum wird die Leserschaft beiläufig auch mit der zeitgenössischen Kulturpolitik, mit literarischen Strömungen und wichtigen Schulen wie den russischen Formalisten bekannt gemacht. So mit Viktor Schklovskij. Er war nicht nur ein begnadeter Wissenschaftler und Poet, sondern auch einer der verlässlichsten Helfer der Mandelstams. Bleibt die Hoffnung, dass weitere Memoirenbände Nadeshda Mandelstams eine Neuausgabe erfahren und dass der Büchermarkt sie bespricht.