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Mehrheitsgesellschaft?

Numerische Mehrheiten und Minderheiten spielen in Demokratietheorien spätestens seit Alexis de Tocquevilles Buch „Über die Demokratie in Amerika“ (1835) eine große Rolle. Es darf zu keiner „Tyrannei der Mehrheit“ kommen. Unter anderem um das zu verhindern sind nicht nur Dezentralisierung oder der Föderalismus wichtig, sondern auch der Minderheitenschutz. Dieser Schutz sichert die Rechte zum Beispiel der Opposition ab. Damit nicht gemeint waren und sind ethnisch-kulturelle Minderheiten. In liberalen Demokratien bilden sie keinen homogenen Block, sondern sind politisch, wirtschaftlich, sozial, religiös etc. ausdifferenziert wie die so genannte Mehrheitsgesellschaft auch. Es geht in liberalen Demokratien ausdrücklich um politische Mehrheiten/Minderheiten und ausdrücklich nicht um kulturelle oder ethnische. Die Mehrheit der in Deutschland und in Europa lebenden Menschen ist weiss und christlich geprägt, so wie in Subsahara-Afrika die Einwohner mehrheitlich schwarz sind und die arabische Welt mehrheitlich islamisch. Niemand käme auf die groteske Idee zu fordern, diese Regionen weisser oder christlicher zu machen. Und dies nicht nur, weil es den modernen europäischen Kolonialismus gegeben hat, oder weil das Christentum und der Islam im Mittelalter und der Neuzeit militärisch um die Vorherrschaft in Südeuropa und im Nahen Osten rivalisierten. Der Grund, weshalb es weder für diese Regionen noch für Europa sinnvoll ist, die ethnisch-kulturellen Bevölkerungsmehrheiten zu ändern, ist recht einfach: Für stets verbesserte Lebensbedingungen sorgen allein der politisch-juristische Rahmen mit seinem Säkularitätsgrundsatz und die Marktwirtschaft, nicht die ethnische, religiöse oder kulturelle Herkunft der Einwohner_innen. Der erst in den letzten drei Jahrzehnten populär gewordene Begriff „Mehrheitsgesellschaft“ hebt aber auf diese essentialistisch gedachten Merkmale von Menschengruppen ab und ist deshalb kaum brauchbar. Alle Staatsbürger_innen haben hierzulande unabhängig von ihrer Herkunft die gleichen Rechte, aber auch die Pflicht, das Grundgesetz und die mit ihm verbundenen Werte, den Rechtsstaat, die Gewaltenteilung und das staatliche Gewaltmonopol anzuerkennen. In der Bundesrepublik darf nach dem Grundgesetz niemand aufgrund u.a. seiner Herkunft, seines Geschlechts oder seiner Religion benachteiligt oder bevorzugt werden. Um Chancengleicheit herzustellen, werden in staatlichen Ausschreibungen Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund oder Schwerbeschädigte bevorzugt zu Vorstellungsgesprächen eingeladen, um noch bestehende Nachteile auszugleichen. Da es keine spezielle Kultur einer homogen gedachten Mehrheitsgesellschaft gibt, sieht man von der Amtssprache Deutsch ab, die sich zu allem Überfluss wie alle Sprachen dieser Welt auch noch in ständigem Wandel befindet, gibt es auch keinen Grund, sich unausgesetzt als homogen gedachte Minderheit gegen eine vermeintlich kulturell homogene Mehrheitsgesellschaft zu positionieren. Die junge Rentner_innengeneration heute ist mit Rock’n Roll, Elvis, James Dean, Marlon Brando, Bluejeans und – sofern im Westen beheimatet – mit Frankreich-, Italien-, Griechenland-, Spanien- und später Türkeiurlauben aufgewachsen, isst im Alltag von Spaghetti Bolognese über Bami Goreng bis hin zu Chicken Makani und bereitet sich das auch selber zu, war Beatles- oder Stonesfan, hört Django Reinhardt, Miles Davis, Carlos Gardel und hin und wieder Bach, Beethoven, Schubert und Mahler, liest, falls überhaupt, Charles Bukowski oder Gabriel Garcia Marquez, liebt Filme von Carlos Saura, Rainer Werner Fassbinder oder Werner Herzog. Es handelt sich um die Generation der 68er, die die Bundesrepublik in den letzten 30 Jahren auch kulturell geprägt hat. Die nachfolgenden Generationen sind kulturell noch entschieden diversifizierter. Eine kulturell homogene Mehrheitsgesellschaft oder die Vorstellung einer Dominanzkultur sind Pappkameraden, die man nur deshalb so leicht und schnell umschmeißen kann, weil sie faktisch gar nicht existieren und empirisch demnach auch nicht nachweisbar sind.