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Fragen über Fragen

Mir begegnen bei meinen Spaziergängen immer wieder große und kleine Menschen, die wissen wollen, was ich da mit dem Stock treibe oder wie ich mich orientiere: die junge Mutter oder der junge Vater, die ihren Knirpsen all das erklären möchten und mich dabei einbeziehen. Das sind Sternstunden. Ich erlebte im Park auch mal eine Grundschulklasse, aus der heraus mich Kinder fragten und weil die Lehrerin das Gespräch zuließ, wurde daraus ein Highlight für beide Seiten. Kinder können nicht wissen, wie mit blinden Menschen umzugehen ist, und viele Erwachsene ebenso wenig. Alles, was ich heute über Blinde weiß, habe ich vor meiner Erblindung im Leben nicht geahnt, obwohl ich es auch vorher im Alltag mit Blinden zu tun bekam und sogar vor Jahrzehnten mal mit einem blinden Justitiar Vertragsstrafen berechnet hatte. Fragen sind erwünscht. Allerdings nicht alle. Als ich einmal nach Einstieg in eine Straßenbahn nahe der Tür nach einem Sitzplatz suchte, fand ich den für Schwerbehinderte oder Schwangere vorgesehenen besetzt – ich bin schließlich nicht die Einzige, die schwerbehindert ist und den Öffentlichen Nahverkehr nutzt. Plötzlich rief eine Frau: „Darf ich fragen, wieviel Sie noch sehen?“ – „Nein, dürfen Sie nicht!“, habe ich geantwortet. Ich trage nach wie vor eine meiner alten Brillen, weil ich mit den zwei Prozent Sehkraft, die ich auf einer Seite noch habe, durch das Augenglas die Konturen des Helldunkel besser erfassen kann als ohne. Das Tragen der Brille machte mich in ihren Augen vermutlich zur Simulantin, jedenfalls aber zu einer Person, für die sie ihren Sitzplatz nicht zu räumen bereit gewesen ist, weil ich ja möglicherweise imstande sein würde, nach einem anderen Ausschau zu halten. Der weiße Blindenstock, den ich in einem solchen Fall wohl kaum benötigen würde, hat sie offenbar nicht überzeugt. Fragt ein Kind Mutter oder Vater: „Was macht die denn da?“, wenn sie mich mit dem Stock pendeln sehen, und die oder der Erwachsene antwortet: „Die kann nicht kucken“ oder: „Der muss man helfen“, werfe ich ungefragt ein: „Quatsch, das ist eine Wünschelrute, ich bin auf Goldsuche!“ Wer wird schon gern als unvollkommener oder hilfloser Mensch vorgeführt?! Einmal kam mir ein junger Mann entgegen und rief schon von weitem: „Hey, blinder Mensch, wie kalibrieren Sie den Raum?“ bei dieser Wortwahl, dachte ich, kann es sich nur um einen Nerd handeln. Da er aber auf meiner Höhe nicht stehenblieb, um eine Antwort abzuwarten, kann er an einer Antwort von mir nicht interessiert und die Frage nicht ernst gemeint gewesen sein. Dabei ist dieser Aspekt blinden Lebens interessant. Wie machen das bloß die blinden Landvermesser? Nächstens mehr.